B. Bannasch u.a. (Hrsg.): Darstellen, Vermitteln, Aneignen

Cover
Titel
Darstellen, Vermitteln, Aneignen. Gegenwärtige Reflexionen des Holocaust


Herausgeber
Bannasch, Bettina; Hahn, Hans-Joachim
Reihe
Poetik, Exegese und Narrative. Studien zur jüdischen Literatur und Kunst 10
Erschienen
Göttingen 2018: V&R unipress
Anzahl Seiten
528 S., 55 Abb.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Iris Roebling-Grau, Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft / Institut für Romanische Philologie, Freie Universität Berlin

„Ich habe Angst, Auschwitz könnte nur schlafen.“ Dieses Zitat (S. 449) stellt Tobias von Borcke seinem Beitrag über „Gedenkstättenpädagogik als Bildungsarbeit gegen Antiziganismus“ voran. Es drücke das Trauma einer Überlebenden aus und müsse von den Nachgeborenen „sehr ernst“ genommen werden (S. 469). In dem Hinweis auf die ebenso einfache wie poetische Metapher vom „schlafenden Auschwitz“ und die damit verbundene Angst ist das Ziel des vorliegenden Bandes „Darstellen, Vermitteln, Aneignen. Gegenwärtige Reflexionen des Holocaust“ auf beeindruckende Weise zusammengefasst. Die von den Literaturwissenschaftlern Bettina Bannasch und Hans-Joachim Hahn herausgegebene Publikation unternimmt eine Bestandsaufnahme der Auseinandersetzung mit dem Holocaust, wobei einleitend auf eine Zäsur hingewiesen wird: das Sterben der „letzten Überlebenden der Lager, aber auch der Täter und Zuschauer“ (S. 9). Mit diesem Sterben endet die mündliche Überlieferung. Fortan muss alles Wissen über die historischen Ereignisse aus Quellen, literarischen Darstellungen, Bildern, Filmen, digitalen Medien und vermittelt über die noch vorhandenen Orte des Geschehens bezogen werden. Wie sieht dieser Prozess der Vermittlung konkret aus? Kann er gelingen, und kann er eine Wiederholung verhindern?

Der Band ist in drei Sektionen gegliedert, die sich unterschiedlichen Formaten widmen (Texten, Bildern und Gedenkstätten). Die erste Abteilung eröffnet ein Betrag von Mona Körte zu zwei der heute bekanntesten Überlebenden. In den Schriften von Primo Levi und Charlotte Delbo werde der schwierige Prozess des Verstehens bereits in der Mehrsprachigkeit der Texte sichtbar. Einer direkt identifikatorischen Lektüre sei damit eine Absage erteilt. Im Anschluss stellt Jan Süselbeck mit Ruth Klüger und Otto Dov Kulka zwei autobiographisch schreibende Überlebende einander gegenüber und arbeitet heraus, wie beide die klare Grenze zwischen den historischen Fakten und den eigenen Erinnerungen in ihren Texten hinterfragten. Martin A. Hainz widmet sich dem Genre der Lyrik und präsentiert Lektüren überaus prominenter Gedichte unter anderem von Paul Celan, Rose Ausländer und Robert Schindel. Am Rande wird die möglicherweise problematische Schönheit der „Todesfuge“ diskutiert. Damit wird eine Frage aufgegriffen, die auch mit Blick auf bildliche Darstellungen bereits aufschlussreich besprochen wurde.1 Wie die Vermittlung im Theater ausfallen kann, beschreibt Hans-Joachim Hahn, indem er zeigt, dass der Holocaust im „tragischen Realismus“, in „Brecht’sche[r] Rollendistanz“, im „Dokumentartheater“ und in der „Groteske“, auch direkt nach dem Krieg, dargestellt wurde. Die Aufgabe der immer wieder neuen Aneignung falle den jeweils aktuellen Inszenierungen zu. Konkreter auf den Fall der Groteske geht Anna Zachmann in ihrer Gegenüberstellung der Schriften von Edgar Hilsenrath und Bruno Dössekker alias Binjamin Wilkomirski ein. Der Vergleich schließt mit der Feststellung, dass sich aus der (bei Dössekker freilich nur zeitweise) „positiven Rezeptionsgeschichte“ beider Texte ein „Wandel in der Erinnerungskultur“ ablesen lasse, die nicht mehr auf einen nüchternen Dokumentarstil beschränkt sei. Diese Einschätzung ist sicher zutreffend. Ob man sie allerdings aus den genannten Texten ableiten sollte, bleibt offen: Hilsenrath hat als Überlebender eine eigene Form der Darstellung entworfen, Dössekker bezeugt vielmehr die bizarre und wohl auch betrügerische Aneignung einer Opfernarration.

Einen Perspektivwechsel hin zu den Tätern unternimmt Dominique Hipp in ihrer Analyse der Romane von Jonathan Littell und Martin Amis sowie einem Drama von Elfriede Jelinek. In allen Texten werde die Frage nach dem Wesen der historischen Täter gestellt, wobei ihre „Normalität“ ausgelotet werde. Gerade diese Kategorie aber erweise sich ebenso wie eine pauschale Pathologisierung als „wenig sinnvoll“ (S. 165). Bei Amis bemängelt Hipp die verstörende Zusammenstellung von Liebesroman und Lagerbericht, bei Littell den Widerspruch zwischen den extravaganten Zügen der Figur „Max Aue“ und dessen Durchschnittlichkeit. Unerwähnt bleibt, dass Amis auch einen metapoetischen Text über die Darstellungsformen der Shoa verfasst hat, in dem die Idylle bewusst befremdlich eingesetzt wird2, und dass Littell die Beschreibung der historischen Täter verzerrt, um den Lesenden die Frage zuzumuten, wie sie sich verhalten hätten – und aktuell verhalten. Beide Romane erschöpfen sich damit nicht im retrospektiven Blick, sondern entsprechen dem Ziel des vorliegenden Bandes gut, indem sie die Vergangenheit im Licht der Gegenwart aktualisieren. Der Versuch einer Aktualisierung ist besonders brisant im pädagogischen Feld der Kinder- und Jugendbuchliteratur. Holger Zimmermann stellt diesen Bereich vor und betont, dass eine Reduktion auf moralische „Imperative“ (S. 192) verfehlt sei.

Die zweite Sektion des Bandes, unter den Leitbegriffen „Sichtbarkeit und Evidenz“ den Bildern gewidmet, eröffnet Hans Kruschwitz mit einer aufschlussreichen Relektüre des Klassikers „MAUS“ von Art Spiegelman. Weitgehend unbekanntes Material erschließt Ole Frahm, wenn er Comics vorstellt, in denen der Golem auftritt. Wie unterschiedlich diese aus der kabbalistischen Überlieferung stammende Figur in Darstellungen von Verfolgung, Errettung, Macht und Machtlosigkeit eingesetzt wurde, zeigt der Beitrag höchst anschaulich. Die Entdeckung und Rezeptionsgeschichte des wohl bekanntesten Fotoalbums über den Holocaust, des von Lili Jacob bei Kriegsende gefundenen und überlieferten Albums mit Auschwitz-Fotos der SS, fasst Hildegard Frübis zusammen. Einmal mehr wird hier deutlich, wie wenig vermeintlich „authentische“ Fotos für sich selbst sprechen. Im Medium des Nachkriegsfilms hingegen geht es wieder primär um die Selbstreflexion der Deutschen, die, wie Manuel Köppen ausführt, das eigene Leid gern im Spiegel der jüdischen Verfolgung und Vernichtung sahen. Auf eine gegenläufige Linie verweist Bettina Bannasch, wenn sie eine Erziehung durch Scham beschreibt, die mit Hilfe des US-amerikanischen Dokumentationsfilms „Death Mills“ von 1945 unternommen wurde. Von dort aus war es ein langer Weg bis zum gefälligen und kommerziell erfolgreichen „Holocaustfilm“, wie Steven Spielberg ihn Jahrzehnte später mit „Schindlers Liste“ produziert hat. Gerade der vielschichtige und jeweils unterschiedliche Zusammenhang von „Darstellen“ und „Vermitteln“ erweist sich angesichts dieses Materials als komplex. Vergleichsweise unbekannt sind die von Kathrin Hoffmann-Curtius zusammengestellten Gemälde. Auch hier wird deutlich, wie unterschiedlich die Formensprache von Überlebenden und „nicht verfolgten Zeitgenossen“ (S. 334) ausfällt.

In der letzten Abteilung des Bandes geht es um die bereits im Titel anvisierte und auch aktuell diskutierte Thematik der Vermittlung und Aneignung von Geschichte vor dem Hintergrund möglicher pädagogischer Fragen.3 Drei erhellende Beiträge berichten von Gedenkstätten (Neuengamme, Kaufering und Landsberg sowie Dachau), zwei weitere Artikel sind der Pädagogik im engeren Sinne gewidmet, wobei einmal die Rezeption des Tagebuchs der Anne Frank und im letzten Beitrag die bereits erwähnte „Bildungsarbeit gegen Antiziganismus“ besprochen werden. In den Aufsätzen zu den Gedenkstätten wird deutlich, dass die historischen Orte „allmählich die Funktion [übernehmen], die lange Zeit den Überlebenden der Konzentrationslager zukam“ (Kistenmacher, S. 393). Die Beiträge von Olaf Kistenmacher, Edith Raim und Christina Ulbricht zeigen, wie an den ehemaligen Lagern ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs über die jeweilige Bereitschaft ablesbar wird, sich den historischen Fakten zu stellen und diese immer neu zu interpretieren. Auch hier reicht die Spannweite der Reaktionen von Verweigerung bis zu partieller Identifikation mit den Opfern. Als ein textueller „lieu de mémoire“ (S. 398) werden Anne Frank und ihr Tagebuch präsentiert. Die von Annes Vater vorgenommenen Eingriffe trugen zu einer Stilisierung der Figur „Anne Frank“ als einer infantilen und konfliktbereinigten Projektionsfläche bei, die auch digital erfolgreich vermarktet wird. Viele Menschen verspüren offenbar das Bedürfnis, sich dieser Figur „nahe zu fühlen“ (S. 413). Christine Gundermann bewertet diesen Umgang mit der Realität nicht explizit, aber es wird deutlich, dass die Gratwanderung genau an diesem Punkt einsetzt: Darf Vermittlung auch um den Preis der Verfälschung erfolgen? Die Frage zielt auf die den gesamten Band durchziehende Thematik der Identifikation und Empathie. Was heißt es, das Leid der Opfer nachzuvollziehen? Was heißt es, die Täter zu verstehen?

Diese Fragen sind heute so aktuell wie direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, aber sie sind es auf andere und neue Weise. Deswegen erscheint es geboten, Zeugnisse der Überlebenden ebenso noch einmal zu lesen wie jüngere Werke der fiktionalen Literatur. Angesichts der in der Einleitung betonten Zäsur, die das Sterben der „Zeitzeugen“ mit sich bringt, hätte man die Gewichtung in dem vorliegenden Band allerdings zugunsten neuerer Texte, Bilder und Filme verschieben können. Von den achtzehn Beiträgen behandeln nur drei Aufsätze Kunstwerke aus dem 21. Jahrhundert. Die inzwischen breite Repräsentation des Holocaust in den digitalen Medien kommt kaum zur Sprache.4 Das aber schmälert das Verdienst dieses umfangreichen, sorgfältig edierten und sehr lesenswerten Bandes nicht. Er vermag es an zahlreichen Stellen, uns noch einmal in Berührung zu bringen mit dem Gefühl der Angst vor einem nur „schlafenden Auschwitz“.

Anmerkungen:
1 Brett Ashley Kaplan, Unwanted Beauty. Aesthetic Pleasure in Holocaust Presentation, Urbana 2007.
2 Besonders deutlich in der Eröffnungsszene des Romans, in der sich ein SS-Offizier verliebt. Martin Amis, The Zone of Interest, London 2014, S. 1.
3 Vgl. Angelika Schoder, Die Vermittlung des Unbegreiflichen. Darstellungen des Holocaust im Museum, Frankfurt am Main 2014.
4 Vgl. dazu etwa Eva Pfanzelter, At the Crossroads with Public History. Mediating the Holocaust on the Internet, in: Holocaust Studies. A Journal of Culture and History 21 (2015), S. 250–271; Alina Bothe, Die Geschichte der Shoah im virtuellen Raum. Eine Quellenkritik, Berlin 2019.